spacer WUNDERKAMMER_ UND ALLES FLEISCH WIRD ZU GRAS...
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„Im Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Nostalgie, Entfremdung und Sehnsucht das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Tier ablesen und den Betrachter damit konfrontieren, ist mein eigentliches Anliegen.“ Silke Andrea Schmidt beschreibt, was für sie die Triebfeder ihrer Konzept- und Installationskunst ist, die sie seit 1997 in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Das Bedürfnis der Offenlegung, das Aufzeigen der immer weiter fortschreitenden Entfremdung zwischen Mensch und Tier – aber auch des Menschen von seiner inneren Natur – teils suptil, teils in schonungsloser Bildsprache steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Sie inszeniert mit Leidenschaft gestörte Idylle und visualisiert den hemmungslosen Konsum einer Überflussgesellschaft, geprägt durch den Beziehungsverlust des Menschen zu seiner natürlichen Umgebung.

„Ich möchte eine realisierbare Unmöglichkeit – eine Utopie schaffen. Visionen ohne Handlungen sind nicht mehr als ein Traum. Handlungen ohne Visionen sind Zeitverschwendung. Visionen, die Handlungen bestimmen, können die Welt verändern,“ (n. Joel A. Barker) davon ist Silke Andrea Schmidt überzeugt.
Wie dringend notwendig dies ist, beschreibt Joseph Beuys schon 1978, dessen Werk einen großen Stellenwert für die Künstlerin hat: „Unser Verhältnis zur Natur ist dadurch gekennzeichnet, dass es ein durch und durch gestörtes Verhältnis ist. Was zur Folge hat, dass die Naturgrundlage, auf der wir stehen nicht nur gestört, sondern sogar restlos zerstört zu werden droht. Wir sind auf dem besten Wege, diese Basis völlig zu vernichten, indem wir ein Wirtschaftssystem praktizieren, das auf hemmungsloser Ausbeutung von Natur und Tieren beruht. Die brutale Ausbeutung ist die selbstverständliche Konsequenz eines Wirtschaftssystems, dessen obere Richtschnur Profitinteressen sind.“

 

(Pressetextauszug von Joachim Instinsky, 2006)





Kunst ist kein Luxus" – Wenn Entfremdung zur Kunst wird


Sie häuft raumgreifende Hügel von Latex bezogenen Schneckenhäusern auf, postiert ausgestopfte weiße Rehe in Sonnenblumenkernfeldern, stellt Legionen von Gummimäusen nostalgische Filzarbeiten gegenüber – die Berliner Künstlerin Silke Andrea Schmidt, 1969 in Offenbach geboren, abgeschlossenes Architekturstudium in Kassel und Berlin sowie Absolventin der Offenbacher Hochschule für Gestaltung in den Fächern Kunst und Grafikdesign, setzt Zeichen.


In ihren symbolgewaltigen und zugleich traumzarten Ausstellungen, die in den letzten Jahren die Kunstszene Rhein-Main beleben, beherrscht die Entfremdung von Mensch und Natur, aber auch jene des Menschen von seinem Innern, die Szenerie vor den Augen des Betrachters.

Ob Fotografie, Installation oder Filzbild, Silke Andrea Schmidt begnügt sich nicht mit einfachen Aussagen über die vermeintliche Unvereinbarkeit von Mensch und Tier, sondern zeigt und ersetzt im Gegenteil die verloren gegangene Verbindung in ihren oftmals meditativ-verstörenden Arbeiten.

So liegt ihren Kunstereignissen immer eine besondere Ästhetik zugrunde: Da mag auf trügerische Art die harmonische Kombination von industriell gefertigter Massenware und Naturfundstück funktionieren, doch der unvermittelt todesstarre Blick eines übergroßen Tierauges ruft mahnend plötzliches Unbehagen in Orwell'scher Manier hervor.


Die Künstlerin offenbart Störungen zwischen Mensch und Tier, unter denen vor allem das Tier zu leiden hat. Menschliches verfügt über tierisches Leben, wir sind der Natur entfremdet, haben sie feindlich übernommen, aus unserem technisierten Leben verbannt.

Manchmal wagen wir einen Blick durch schmale Zeitfenster und Nadelöhre in sie hinein, aber auch nur dann, wenn es uns passt und danach verlangt. Eine einseitige Beziehung, die der anderen Hälfte keine Wahl lässt, dadurch aber beiden Schaden zufügt. Nun ist der Mensch zwar Zerstörer aber auch Heiler, und hoffnungsvoll appelliert die Künstlerin, die das fragile Beziehungsgeflecht zwischen Homo sapiens und Mutter Natur nicht gänzlich verloren geben möchte, an eine andere menschliche Spezialität–Kitt von Menschenhand, Mull und Pflaster als wiederkehrende Symbole einer heilenden Verbindung der kreatürlichen Welten. Silke Andrea Schmidt inszeniert in schonungsloser Bildsprache das Tier als Ware und industrielles Produkt und den Beziehungsverlust des Menschen zu seiner natürlichen Umgebung (..)

Text von Anna-Fee Neugebauer (Offenbach, 2006)





Diplomausstellung von Silke Andrea Schmidt im Juni 2002

im Isenburger Schloß in Offenbach am Main

Hochschule für Gestaltung/Offenbach am Main

In der Ausstellung in der spätgotischen Kapelle des Isenburger Schlosses wurde eine Vielfalt von eigenartigen, skurilen Objekten präsentiert, ein Füllhorn einer wundersamen Welt, die sich allein aufgrund der großen Anzahl der ausgestellten Objekte nicht sofort erfassen ließ. Die Arbeiten enthielten aktuelle Bezüge, Rückblicke, Konfrontationen, Rätsel. Sie waren eine Vermischung unterschiedlichster Kontexte und immer wieder verwiesen sie auf die Vergänglichkeit. Oftmals wurden Naturstoffe mit industriell gefertigten Materialien oder unscheinbaren Alltagsgegenständen kombiniert, die dadurch in einem neuen Licht erschienen. Allein der Anblick der gezeigten Naturmaterialien rief bei Betrachtern oftmals Verwunderung hervor, da diese nicht mehr in unserem Lebensumfeld präsent sind.

So gab es etwa sieben Luftmatratzen, die vollständig mit Heu, Stroh, Federn, Rosshaar oder Blättern bedeckt waren. Die Ausnahme stellten Schaumstoffstückchen dar, die die Reihe der Naturstoffe unterbrachen und dadurch zusätzlich irritierten. Es erweckte den Anschein, als seien die Luftmatratzen Naturfundstücke, nur ihre Form gab einen Hinweis auf das Ursprungsobjekt, einen industriell gefertigten, unserer Wahrnehmung vertrauten Gegenstand.

Es entstand eine eigenartige Dialektik, deren Ausgangsgedanke die Entfremdung des Menschen von seiner inneren und äußeren Natur ist. Inhaltlich war dies das Thema der gesamten Ausstellung, die auf ihre Art und Weise die Sicht der Welt im Kleinen gewesen ist.

Die gezeigten Fotografien im Katalog zur Ausstellung “Wunderkammer” sind ebenso in diesem Kontext entstanden. Lebewesen und Objekte wurden durch Makroaufnahmen aus einem Blickwinkel gezeigt, der sehr überraschend wirkt, da er meistens verborgen bleibt, durch die geringe Distanz erhält das Abgebildete, eine Maulwurfpfote oder ein toter Vogel eine große Präsenz. Hinter der zunächst auffallenden Ästhetik der Bilder verbirgt sich auch hier fast immer die Anwesenheit des Vergänglichen.



 

Katalogtext von Dr. Petra Leutner, Juli 2002

„Tierkampfzone“

I.
Das Tier hat keinen Eigennamen, keinen Paß, keine soziale Identität - höchstens einen Impfpaß, Stammbaum oder Züchternachweis. Beim Rennpferd kann man um des Bluts willen den Ahnenstamm nachverfolgen; beim Hund die Reinheit der Rasse bestätigen. Von der geschlachteten Kuh wird der Metzger ein Zertifikat als Herkunftsgarantie seines Rindfleischs aushängen. Doch was ist schon ein Personalausweis? Was ist ein Paß?
Die Haut des Tiers ist nicht unantastbar. Sie kann perforiert werden, sie trägt Brandings, sie verbirgt Mikrochips. Das Fell wird verteilt. Über das Leben der Nutztiere und Haustiere verfügen Menschen. Es gibt noch wild lebende Tiere: Vögel, Ameisen, Bären und andere. Wie ihre zahmen Artgenossen sind auch sie nicht der Sprache, nicht der menschlichen Sprache mächtig. Sie können kein Zeugnis ablegen, sie sprechen nicht. Sie hinterlassen keine lesbaren Zeichen. Was einem Tier geschieht, wird von ihm nicht ausgesagt. Das Tier wird es nie bezeugen und es wird sein Leiden und seine Freude nicht beschreiben. Es mag jaulen und fauchen, wenn es geschlagen wird, später wird es den Schmerz für sich behalten. In den tierischen Lauten tritt die Stimme hervor, schreibt der Philosoph Giorgio Agamben, nur die menschliche Stimme wird von der Sprache aufgezehrt.
Die semantische Stummheit des Tiers - Stummheit für uns - gibt sie die Wahrnehmung frei? Im Augenblick leben, ohne Zukunfts-sorgen, ohne Angst, ohne Reflexion, den Sinnen ergeben, vom Instinkt begrenzt?

II.
Tiere bieten ein universell und ständig verfügbares Reservoir an Projektionsmöglichkeiten, sie dienen als Symbole und als Instanzen anthropomorpher Spiegelung.
Das Andere wird auf das bekannte Andere reduziert: Der Fuchs ist die menschliche Schlauheit, der Hund die menschliche Treue. Die Fabel verteilt die Rollen der Menschengesellschaft im unwegsamen Gelände eines fremden Gegenübers. Ein anderes Bild, das wir vom Tier haben: das Animalische, die Sinnlichkeit, die Virilität. Negativ gewendet: im Klassizismus der Bereich der Notwendigkeit, der im Gegensatz steht zum Reich der Freiheit, von der Kirche dämonisiert als Triebhaftigkeit und Quelle der Sünde.
Muß, wie die Bibel es will, das Weib dem Mann, das Tier dem Menschen unterworfen sein? Ist es möglich, aus der überliefer-ten Opposition Mensch - Tier herauszutreten? Dem Anderen sein Anderssein zu lassen? Gilles Deleuze schreibt, der Künstler Francis Bacon habe Menschsein und Tiersein nicht aufeinander reduziert. Die von ihm gemalten, gesichtslosen Köpfe zeigten einen Geist, der Körper sei, den “Tiergeist” des Menschen, und jede Figur Bacons sei ein Paar, nämlich “der in einem latenten Stierkampf mit seinem Tier verwachsene Mensch” (Gilles Deleuze, Francis Bacon - Logik der Sensation).

III.
Das Feld der Unterscheidungen ist abgesteckt, die Zeichen und Symbole existieren. Doch wenn sich die Konstellationen ein wenig bewegen, verschieben sich auch die Bedeutungen. Man kann mit den Symbolen arbeiten, die überlieferten Bilder entstellen. Das Tier läßt sich der männlichen Projektion von Potenz durch Übertreibung oder leichte Verschiebung entziehen. Der Effekt stellt sich ein, wenn bei Silke Andrea Schmidt eine Gruppe von Hirschen auf nackter Haut zu sehen ist oder penisartige Formen, teils kristallin, teils fleischig, die sich weder Mensch noch Technik oder Tier eindeutig zuordnen lassen. Das krude Leben ist der Bereich, in den Menschen und Tiere gleichermaßen eingepflanzt sind: Mit dem Körper in seiner ganzen Ausdehnung, der unwiderruflich der Endlichkeit anheimgestellt ist, symbolisiert im Nabel, der Wunde und Narbe, die an die Geburt erinnert. Man sieht bei Silke Andrea Schmidt verpflasterte Dinge, die erinnern an umwickelte Haut mit verstopften Poren: Negationen des Empfindens, Phasen einer Heilung. Schuhe liegen in einem Netz als hätten sie fischige Schuppen, Pistolen sind verpackt. Luftmatratzen wurden mit Heu überzogen.
Die ursprünglichen Gegenstände sind bekannt, als von fingierter Zeit oder Natur überformte Skulpturen sehen sie jetzt anders aus. Ist ihr Exil die Natur oder die Kultur?
Die Aufladung durch christliche Symbole und Insignien der Passion verdichtet den Aspekt des Opfers. Die katholische Opfermetaphorik sieht das unschuldige Lamm unter dem Kreuz. Eine weitere Verschiebung der Bilder erfolgt: Das Tier und das Tier im Menschen sind nach jahrhundertelanger Naturbeherrschung jetzt selber die Opfer. In diesem transformierten christlichen Kontext gedeiht auch die Beschwörung der Überschreitung als heiliger Eros im Sinne George Batailles. Das Sehen wird erotisiert und auf Detailaufnahmen eingestellt wie in Batailles Geschichte des Auges. Was das Ganze ist, bleibt absichtlich unklar.
In den Arbeiten von Silke Andrea Schmidt gibt es Sentimentalitäten; Maulwurfspfoten und Löwenzahn. Auch das Unheimliche wird heraufbeschworen. Die Sünde, die die Strafe nach sich zieht: So folgt auf die Pervertierung der Natur die Abernatur, die Apokalypse in Gestalt monströser Tiere oder harmloser Wolpertinger. Diese alptraumartigen Geschöpfe sind die Gespenster einer die Abgrenzung fetischisierenden Vernunft. Sie sind ebenso wirklich geworden wie das spielerische Unterlaufen der Grenzen von Maschine, Mensch und Tier.



 

Katalogtext von Andrej Tarkowskij, 1969

„Die versiegelte Zeit“

Zeit und Erinnerung sind einander geöffnet, sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille.
Es ist vollkommen klar, daß es außerhalb der Zeit auch keine Erinnerung geben kann.
Und die Erinnerung wiederum ist ein äußerst komplexer Begriff. Selbst wenn man ihre sämtlichen Merkmale aufzählen wollte, könnte man damit noch nicht die Summe all jener Eindrücke erfassen, mit denen sie auf uns einwirkt. Die Erinnerung macht uns verletzbar und leidensfähig. Es heißt, die Zeit sei unwiederbringlich. Das ist insofern richtig, als man wie man sagt, das Verlorene nicht zurückholen kann. Doch was bedeutet eigentlich das Vergangene, wenn für jeden im Vergangenen die unvergängliche Realität des Gegenwärtigen, eines jeden vorübergehenden Moments beschlossen liegt? In einem bestimmten Sinne ist das Vergangene weit realer, zumindest aber stabiler und dauerhafter als das Gegenwärtige. Gegenwärtiges gleitet vorüber und verschwindet, zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern.
Sein materielles Gewicht erhält es erst in der Erinnerung. Für den Menschen kann die Zeit nämlich nicht einfach spurlos verschwinden, weil sie für ihn lediglich eine subjektiv geistige Kategorie ist. Die von uns durchlebte Zeit setzt sich in unseren Seelen als eine in Zeit gemachte Erfahrung fest.




 

Text von Christoph Schütte, FAZ, 2.07.2002

„Vergänglichkeit und Verfall”

Die Ausstellung “Wunderkammer_und
alles Fleisch wird zu Gras...” in Offenbach

Ein klein wenig fühlt man sich um Jahrhunderte zurückversetzt. Denn Silke Andrea Schmidt hat in der spätgotischen Kapelle des Isenburger Schlosses in Offenbach tatsächlich so etwas wie eine Kunst- und Wunderkammer eingerichtet, wie sie in der Renaissance und im Barock an den Höfen populär waren. Nur daß diese Welt en miniature, so skurril und unüberschaubar sie erscheinen mag, deutlich die unsere ist. Die 1969 geborene Künstlerin, die mit “Wunderkammer - und alles Fleisch wird zu Gras” ihre Diplomarbeit an der Hochschule für Gestaltung vorgelegt hat, kombiniert natürliche und künstliche Materialien, Fotografien, vorgefundene und eigens angefertigte Objekte zu einer Sammlung aller möglichen und unmöglichen Dinge. Da gibt es Wolpertinger und totes Getier, Pflanzensamen und Vogelnester, Betten aus Stroh, Federn und Schaumstoff, Kissen aus Löwenzahnsamen oder Nerz und in Trichtern gefangene Fische. Schon der Titel verweist dabei auf ein zentrales Thema der Ausstellung: “Alles Fleisch wird zu Gras, und all seine Schönheit gleicht der Blume des Feldes: das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Hauch des Herrn sie anweht”, heißt es bei Jesaja. Doch Vergänglichkeit und Verfall alles Lebendigen ist nur ein Aspekt dieser Arbeit. Natürliche und industriell gefertigte Objekte stehen durch den Kontext, in dem sie präsentiert werden, in einem seltsamen Spannungsverhältnis. Etwas ist aus den Fugen geraten. Immer wieder tauchen als Material Mull oder Pflaster auf, als gelte es, heilend einzugreifen. Unaufdringlich, aber unübersehbar kündet diese Wunderkammer davon, wie fremd geworden ist, was einmal Natur hieß. Dieser Entfremdung ist die Künstlerin mit wachem, neugierigen und auch melancholischen Blick auf der Spur.



 

Text von Christine Nowak, Offenbach Post, 25.6.2002

„Panoptikum des Unbehagens“

„Wunderkammer-und alles Fleisch wird zu Gras...“ im Isenburger Schloß

Das alte bayrische Sprichwort: “Siehst du einen Wolpertinger, sieh zu, dass du wegkommst...” sollte man hier nicht beherzen. Frontal begrüßt werden Besucher der Diplompräsentation von Silke Andrea Schmidt an der HfG von einer Reihung kleiner Wolpertinger-Skulpturen. Das Fabeltier, entspringt es doch alten Mythen des Volksglauben, ist eine obskure Mischung aus Nagetier, Huftier und Vogel. Wie viele andere Objekte der Präsentation sind es Leihgaben, auf welche die Künstlerin zufällig gestoßen ist und diese wurden nun in ihre Wunderkammer, ihr Sammelsurium, integriert.

Kuriosität oder kitschiges Relikt, Morbides und Vergängliches, aber auch Sakrales kommen in den Räumen der spätgotischen Kapelle des Isenburger Schlosses zusammen. Passend der Titel: „Wunderkammer_und alles wird zu Gras...“

Es ist nicht nur eine Reminiszenz an die Wunderkammern, den ersten museumsartigen Einrichtungen, in denen zumeist Adlige ihre gesammelten Schätze ausstellten, sondern auch Ausstellungskonzept für die Arbeiten Silke Andrea Schmidts. Es sind jedoch nicht präparierte Krokodile, Schrumpfköpfe, menschlichen Embryonen oder naturwissenschaftliche Exponate ausgestellt, wie bei den großen Vorbildern der Wunderkammern des 15. und 16. Jahrhunderts. Dort wurde versucht, die Ordnung des ganzen Kosmos in einer Sammlung von Objekten darzustellen, die ein möglichst umfassendes Wissen über die Welt zeigen sollte. In den Wunderkammern drängten sich atemberaubend viele Gegenstände auf engstem Raum. Doch tritt in dieser Kuriositätenkammer das Einzelobjekt gegenüber dem Gesamtensemble, bestehend aus dem Raum, den Objekten und dem Konzept zurück.

Das Konzept des Gesamtensembles wird auch hier in der Kapelle wieder deutlich. Eine regelrechte Materialschlacht hat Schmidt zu dieser Präsentation geleistet. Diese Masse fordert nun vom Betrachter ein langsames Entdecken der einzelnen Gegenständen, ein neugieriges Stöbern, verbunden mit Staunen und oder amüsierten Schmunzeln. So verblüffen die Makrofotografien von Maulwurfkrallen. Sie hängen riesig vergrößert an der Wand und erlauben so dem Betrachter eine ganz neuartige Erfahrung. Naturmaterialien werden mit industriell vorgefertigten Versatzstücken kombiniert, egal ob Sauger aus der Masttierhaltung oder Latexspenden einer ehemals Rumpenheimer Dildo-Fabrik. Es wird gesammelt, neu kombiniert und so mit neuartigen Subtexten versehen. Es gibt Reihungen und Serien, wie die Hostien, die mit Heiligenbildern versehen an der Wand aufgereiht hängen. Oder die Serie „Target-Tassen“: Plastiktassen, Wegwerfware, in deren Grund kein Kaffeesatz, sondern kitschige Abbildungen, wie die eines röhrenden Hirsches, einer Gams oder Feldhasen zu entdecken sind. Die niedliche Grafik wird jedoch gestört durch die Überlagerung eines Zielvisiers. So liegt im Idyll das Grauen. Manches Ausgestelltes kommt poppig kitschig, harmlos daher, doch schaut man genauer, lässt sich ein feines Gefühl von Entfremdung von Mensch und Natur feststellen. „Kunst muss Belang haben“, so Silke Andrea Schmidt, die durchaus diese sozialkritische Ebene zulässt, in der sich das gestörte Verhältnis von Mensch, Tier und Natur ablesen lässt. Ihre Ängste unterscheiden sich nicht vom kollektiven Unbehagen, das die Gesellschaft erfasst hat.

Mäuschen, Hasen und Rehkitze sind in der Ausstellung bedeckt mit neuen Stoffen, mit Haaren, Federn oder Stroh, scheinbar unkenntlich gemacht und transformiert. Die Künstlerin spielt mit den Regeln der Natur und schafft mit ihren Geschöpfen artifizielle Vielfalt. Fazit: Das Natürliche kann unglaublich sein.

Silke Andrea Schmidt, 1969 in Offenbach geboren, lebt in Mühlheim. Die Ausstellung ist ihre Abschlusspräsentation in dem freien Bereich „Bildhauerei“ bei Prof. Wolfgang Luy.




Pressetext von Joachim Instinsky · 16. März 2006

„Silke Andrea Schmidt – Konzept- und Installationskünstlerin“

„Im Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Nostalgie, Entfremdung und Sehnsucht das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Tier ablesen und den Betrachter damit konfrontieren, ist mein eigentliches Anliegen.“

Silke Andrea Schmidt beschreibt, was für Sie die Triebfeder ihrer Konzept- und Installationskunst ist, die sie seit 1999 in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Das Bedürfnis der Offenlegung, das Aufzeigen der immer weiter fortschreitenden Entfremdung zwischen Mensch und Tier - aber auch des Menschen von seiner inneren Natur - teils suptil, teils in schonungsloser Bildsprache steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Sie inszeniert mit Leidenschaft gestörte Idylle und
visualisiert den hemmungslosen Konsum einer Überflussgesellschaft, geprägt durch den Beziehungsverlust des Menschen zu seiner natürlichen Umgebung.

Die Ausstellungen beziehen sich immer auf den Raum, wie etwa „Wunderkammer_und alles Fleisch wird zu Gras..“ (2002) in der Kapelle des Isenburger Schlosses in Offenbach oder „inmausion“ im Büro eines Landtagsabgeordneten in Mainz und folgen inhaltlich einer bestimmten Chronologie, die die Hauptthematik in Variationen visualisiert. Auf eine „Überhöhung des Schönen“ in „The sweetest melody is an unheard refrain“
(2005), in der u.a. ein ausgestopftes weißes Reh inmitten eines raumfüllenden Sonnenblumenkernteppichs liegt, folgte „Kunst ist kein Luxus“ (2006) mit einer Bildsprache, die wesentlich radikaler ins Auge des Betrachters fällt und aufrütteln will - die Kreatur als Ware und als industrielles Produkt, verloren in der hochtechnisierten, modernen Gesellschaft, beraubt jeglicher Würde und Identität.

Silke Andrea Schmidt, 1969 in Offenbach geboren, kam nach Abschluss ihres Architekturstudiums in Kassel und Berlin nach Mühlheim am Main zurück und hat in Offenbach an der Hochschule für Gestaltung in den Fächern Kunst und Grafikdesign ihr Diplom erworben. Der Wunsch, ihre eigenen grafischen Kreationen zu verwirklichen, führte 1998 zur Gründung von transformdesign, die berufliche Plattform für ihre Arbeit als Designerin für namhafte Unternehmen. Künstlerisch eng verbunden ist sie mit dem Netzwerk Offenbach, mit dem sie auf Messen vertreten ist und mehrere Einzel- und Gruppenausstellungen realisiert hat.

„Ich möchte eine realisierbare Unmöglichkeit - eine Utopie - schaffen. Visionen ohne Handlungen sind nicht mehr als ein Traum. Handlungen ohne Visionen sind Zeitvertreibung. Visionen, die Handlungen bestimmen, können die Welt verändern,“ (von Joel A. Barker) davon ist Silke Andrea Schmidt überzeugt. Wie dringend notwendig dies ist, beschreibt Joseph Beuys, dessen Werk einen großen Stellenwert für die Mühlheimer Künstlerin hat: „Unser Verhältnis zur Natur ist dadurch gekennzeichnet, dass es ein durch und durch gestörtes Verhältnis ist. Was zur Folge hat, dass die Naturgrundlage, auf der wir stehen nicht nur gestört, sondern sogar restlos zerstört zu werden droht. Wir sind auf dem besten Wege, diese Basis völlig zu vernichten, indem wir ein Wirtschaftssystem praktizieren, das auf hemmungsloser Ausbeutung von Natur und Tieren beruht. Die brutale Ausbeutung ist die selbstverständliche Konsequenz eines Wirtschaftssystems, dessen obere Richtschnur Profitinteressen sind.“

Großformatige Fotografien, fast immer Makroaufnahmen von Tieren, die den Betrachter durch die eindringliche, ungewohnte Präsenz irritieren, begleiten Silke Andrea Schmidts Installationen und fügen sich ein als Bindeglied zu ihren dargestellten Intentionen.

 

“Vision without action is merely a dream.
Action without vision just passes the time.
Vision with action can change the world.”


Joel A. Barker

 

 




Arbeitstitel der ausgestellten Objekte
(Auswahl)

Matratzen, Fischtrichter, Nerzhostienkissen (Passionskissen), Pistolen (oblivion), Vogelhäuschen, Kakteen, Hamstertablett, Kabelbinderbett (insomnia), gefiedertes Bett (space), Kokons, Kapselhauben, Erlen-Mardergatter, Krebs-Salzkästchen, kleine Sammeldosen, Zahnkiste, fliegender Hausschwamm, Schlingpflanzenkleid, Kätzchenlöffel, Sacknester, Tupferwurzel, Wachskartoffel, Muff, Netzfladen, Gerberaständer, Kapselbecher, Flaschenständer, Pflastertier, Kreuzbügel, Rothasen, Saugervasen, Federgans, Telefon, Knochenleimteller, target-Tassen, Moosquadrate, Mullsamen, Beutelsterne, Federjesus, Torftabletten, Sandteller, archangelsk, Netzschuhe, Latexkugelnester, Löwenzahn-kissenstuhl, Liebeskugelregal, Meisenbäume, Europalegenestaltar, Nester, Zuckerhalter, Rehfußständer, Rosshaartasche, Federballfilterkannen, Graskästen, Kofferjesus, Blasen, Hostienpasspartouts, Glasnudelfisch, Mull-Kohlehügel, Samenbett, Mullkreuze, Brombeerbogen, Sternschnuller, Krebsschale, Passionsschuhe, Granatbabys

 

Katalog "Wunderkammer_und alles Fleisch wird zu Gras..." (pdf = 6 MB)
© Silke Andrea Schmidt · 2002
32 Seiten, Text von Dr. Petra Leutner
Auflage: 500

 

 

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